Interview Zur aktuellen Situation bei selly
Die vergangenen Monate waren für das selly-Team eine Achterbahnfahrt. Die Corona-Krise ging nicht am Unternehmen vorbei: Der Umsatz schwankte, die Mitarbeiter wurden in Kurzarbeit und Homeoffice geschickt. Mitten in dieser unsicheren Zeit wurde das Team von einem schweren Schicksalsschlag getroffen. Der Gründer und Geschäftsführer Andreas von Czapiewski erlitt einen tödlichen Herzinfarkt. Zwischen Trauerarbeit und Corona-Krise musste der Alltag in der Firma bewältigt werden. Patrick Holland-Moritz, Prokurist und Leiter Entwicklung bei selly, blickt im Interview auf die schwierigen letzten Monate zurück.
Inwieweit war und ist selly von der Corona-Krise betroffen?
Patrick Holland-Moritz: Schul- und Kitaschließungen, freie Betten in den Krankenhäusern – das hat sich auch auf unsere Umsätze ausgewirkt. Allerdings kam das bei uns mit einem zeitlichen Versatz von vier bis sechs Wochen an. Am Anfang haben wir nichts gemerkt, dann kam die Phase, wo wir anderweitig beschäftigt waren. Erst hinterher ist uns aufgefallen, dass das sehr schlimm war. An einem Tag hatten wir einen Einbruch von 50 bis 60 Prozent. Wir hatten neue Projekte gestartet und investiert, neue Leute eingestellt. Geholfen hat uns, dass wir zügig auf Kurzarbeit umgestiegen sind. Das haben wir regelmäßig geprüft. Aktuell sind wir wieder auf 100 Prozent.
Wir haben alles unternommen, damit unsere Kunden nichts davon merken. Die Software lief wie gewohnt zuverlässig, den Support haben wir sichergestellt. Viele unserer Kunden saßen ja im Homeoffice und mussten sich die sellyApps erst mal auf dem privaten Laptop, Tablet oder Handy einrichten – da haben wir natürlich geholfen. Oder sie hatten ihre Zugangsdaten nicht parat, auch das ließ sich mit einem Anruf bei uns klären. Wir haben sogar Kunden dazugewonnen, die sich jetzt quasi in Turbogeschwindigkeit digitalisiert haben und ihre Ware über selly kaufen oder verkaufen – auch um ihre Vertriebsmitarbeiter und Einkäufer zu schützen.
Dann kam der plötzliche Tod von Andreas. Wie seid Ihr als Team mit dieser Ausnahmesituation umgegangen?
Für mich persönlich war sofort klar: Eine Ära ist zu Ende. Andreas war mehr als ein Chef. Er war auch ein guter Freund und jemand, der uns inspiriert und angetrieben hat. Am Anfang haben wir nur funktioniert und fast gar nicht geschlafen. Alles, was Andreas gemanagt hat, um das Unternehmen schlagkräftig zu halten und durch die aktuellen Untiefen durchzukommen, ist mit einem Schlag bei mir gelandet. Plötzlich mussten wir alles allein entscheiden und dafür geradestehen.
Wir haben dann schnell einen offensiven Umgang damit gefunden. Schon vom zweiten Tag an haben wir ganz eng miteinander kommuniziert. Jeder konnte seine Trauer zum Ausdruck bringen, aber auch übers Tagesgeschäft reden. Es war eine ganz skurrile Situation, wie so ein überbuntes Bild, weil so viele Dinge gleichzeitig passiert sind. Wir haben schnell gemerkt, dass viele andere Kollegen das gleiche Problem hatten, haben uns gegenseitig aufgefangen und einen Weg gefunden, wieder ins Normale zurückzufinden. So konnten wir ganz schnöde Tagesprobleme besprechen, ohne dass sich das trivial angefühlt hätte.
Über diesen Weg sind wir sehr nah zusammengerückt als Truppe. Der ganze Familiengedanke von selly ist neu zum Tragen gekommen. Wir haben uns gegenseitig gestützt und geholfen, so dass wir mit Optimismus und Freude dem nächsten Tag begegnen konnten. Wir haben uns auch bemüht, alle Kunden und Partner, alle, die Andreas von Czapiewski kannten, persönlich zu informieren.
Wie hat Euch das als Team verändert?
Diesen Umgang haben wir ein Stück weit konservieren können, auch bei Missstimmung. Als Sockel ist das immer da, auch wenn man mal streitet. Es ist nicht so, das es jemanden verletzt oder ausgrenzt, sondern man kann sich guter Dinge solchen Streitgesprächen stellen, denn es tastet dieses Fundament des Miteinanders nicht an. Wenn du in so einer schlimmen Zeit gelernt hast, dich auf die anderen zu verlassen, dann kannst du oben drauf wieder eine Menge aufbauen: sich streiten, unterschiedlicher Meinung sein, Konflikte austragen. Das ist dann nur ein Kratzer in der Haut, das tut nicht weh. Das beschädigt nicht das Verständnis füreinander.
Du lernst auch die Leute plötzlich neu kennen. Du hast vielleicht jahrelang kaum Berührungspunkte zu einer Person – aber durch die Phase, die wir im April/Mai erlebt haben, sind mir Menschen ans Herz gewachsen, mit denen ich vorher jahrelang wenig zu tun hatte. Ich kann denen in einer ganz neuen Qualität begegnen. Es gibt ein gegenseitiges Verständnis. Jetzt kann ich jeden Einzelnen in der Firma abends auf dem Handy anrufen. Das ist wie ein erweiterter Freundeskreis.
selly ist Andreas‘ Lebenswerk, viele von Euch sind schon sehr lange dabei. Wie geht es jetzt weiter?
Durch die tragischen Ereignisse haben wir einen Entwicklungsschub bekommen. Wir reden seit Jahrzehnten darüber, dass wir uns verjüngen müssen. Jetzt haben wir einen radikalen Generationswechsel umgesetzt, bis in die Führungsspitze. Wir haben die ganze Firma mit jungen Leuten durchzogen. Innerhalb kürzester Zeit sind vier neue Leute dazugekommen, alle in den Dreißigern. Die werden gehört, die haben eine Plattform.
Vorher hätten sie sich nach Schema F hocharbeiten müssen, aber jetzt haben sie gleich einen Entfaltungsspielraum. Sie trauen sich auch, Dinge zu sagen, ohne dass gleich falsche Rückschlüsse gezogen werden. Wir sind offen für junge Leute mit komischen Gedanken. Das macht totalen Spaß. In meiner Wahrnehmung sind ganz viele neue Türen aufgegangen, neue Eindrücke und Erfahrungen entstanden.
Gibt es schon einen neuen Geschäftsführer?
Jacques Fischbach ist designierter neuer Geschäftsführer und arbeitet sich bereits ein. Er ist strukturiert, als Ingenieur ist er es gewohnt, Probleme zu lösen, hat aber auch eine schöne Art, mit Menschen umzugehen. Er hört zu und saugt alles auf. Gleichzeitig hat er eigene Ideen. Es wird noch etwas dauern, bis Jacques Fischbach offiziell als Geschäftsführer eingetragen ist, aber de facto füllt er diese Rolle bereits aus. Von ihm wird bald auch hier im Blog zu lesen sein.
Was können die Kunden von selly erwarten?
Unsere Software, die selly Foodservice Cloud, stellen wir weiter zuverlässig bereit. Alles, was schon angedacht und in Reichweite war, haben wir abgearbeitet: neue Verträge, Verhandlungen mit größeren Kunden. Aktuell arbeiten wir an etwa 30 größeren Ideen und Projekten. Da geht es um die Vermarktungsfähigkeit und das Einnahmenpotenzial. Wir versuchen, das zu veredeln, was schon da ist oder schon vorbereitet war.
Unser neues Warenwirtschaftssystem wird konsequent mit unseren Partnern vorangetrieben – so, wie wir es ohnehin gemacht hätten. Das Thema Künstliche Intelligenz führen wir momentan bei internen Prozessen fort. Auch für unsere Kunden gibt es noch zwei bis drei größere Würfe. Auch das ist so vielversprechend und spannend und zwingend und logisch, dass wir das mit unseren Partnern aus dem Netzwerk fortführen. Es lag die letzten drei Monate brach, aber die Gespräche werden jetzt geführt und auch die größeren Forschungsthemen werden wir jetzt angehen. Der Wille ist da, das ernsthaft umzusetzen.
Das hätte Andreas sicher gefallen, dass Ihr weiter an dem Thema KI dranbleibt. Sich an die Spitze der neuesten Entwicklungen setzen, das war doch sein Motto?
Ja, Andreas hat Trends geprägt. Er sagte: „Wir sind immer dem Markt voraus.“ Manchmal waren wir dem Markt 20 Jahre voraus, an anderer Stelle aber vielleicht auch 10 Jahre hinterher. Wir hatten Dinge entwickelt, für die war der Markt noch nicht reif. Es hat ewig gedauert, bis das nachgefragt wurde. Aber dann mussten wir es nur noch aus der Schublade ziehen. Das heutige Warenwirtschaftssystem ist, wenn man so will, eine Neuinkarnation von einer Idee, die wir schon vor zwanzig Jahren hatten. Und erst zehn Jahre später haben die Leute den Wert der Idee erkannt. Da haben wir losgelegt.
Was wünschst du dir persönlich für selly?
Dass das Unternehmen erfolgreich ist. Und dass es uns gelingt, dass es sich auch mit der Vergrößerung weiterhin wie eine Familie anfühlt. Geld verdienen kann man überall, aber was mich froh macht ist, dass es bei selly so viele Leute gibt, denen man sich verbunden fühlt. Diesen Geist zu bewahren – diese Aufgabe haben auch die Leute, die die Geschicke des Unternehmens steuern.
Und ich wünsche mir, dass unsere Kunden zu schätzen wissen, dass wir die Prozesse zu Ende denken, dass wir eine ganze Menge gedanklicher Vorarbeit leisten, um ihnen Entscheidungen abzunehmen, die sie sonst im Tagesgeschäft treffen müssten. Das ist unsere Stärke, dass wir das alles seit Jahren durchdeklinieren.
Unsere Software stellt nicht 25 Fragen, was jemand möchte, sondern wir bieten gleich den besten Weg. Das war das Zusammenspiel zwischen Andreas und mir, weil wir uns täglich darüber die Köpfe eingeschlagen haben. Jetzt müssen wir für Andreas innerlich mitdenken oder alle miteinander diesen Gegendruck aufbauen, um immer die beste Lösung zu finden.
Was wird bleiben von Andreas?
Andreas wird immer ein Teil von selly sein. Wir haben ihm einen festen Platz auf unserer Website eingeräumt. Wenn Menschen von einer Seele sprechen, dann denke ich oft, das ist der Abdruck, den die Leute in unserem Herzen hinterlassen. Das ist es, was wir als unsterblich betrachten. In dem Moment, wo ein Mensch andere geprägt hat, ist er nicht mehr wegzudenken. Er ist einfach da.
Foto: sellysolutions Servicegesellschaft mbH